Warum wir klingen, wie wir klingen

Eine junge Frau mit langen dunklen Haaren ruft etwas über ein Megafon.

Die menschliche Stimme ist nicht nur genetisch geprägt. Auch das kulturelle Umfeld gibt ihr eine bestimmte Farbe. Unsere Herkunft hat sogar Auswirkungen darauf, bei welchen Stimmen wir besonders hellhörig werden – selbst wenn sie aus dem Navigationssystem kommen.

Unsere Stimme: „natürlich künstlich“

Der Erziehungswissenschaftler Christoph Wulf, Professor für Anthropologie und Erziehung an der Freien Universität:„Und dann gibt es ganz sicher eine kulturelle Seite, wie die Sprache angelegt ist. Im Französischen haben sie eine ganz andere Intonation als im Deutschen oder im Englischen. Noch anders ist es im Japanischen. Das sind kulturelle Prägungen der Stimme, die wir von vorne herein, bevor wir geboren werden, schon aufnehmen und denen wir folgen und in deren Rahmen wir uns entwickeln.“Stimmen, die aus Lautsprechern oder technischem Gerät zu uns sprechen prägen noch nicht allzu lang Kulturräume – erst seit ihrer technischen Reproduzierbarkeit vor rund 100 Jahren. Heute allerdings umgeben sie uns permanent: Sie tönen im Auto, aus dem Handy, aus Radio, Fernseher, Computer. Sie sprechen uns auf dem Bahnhof an, im Kaufhaus, in der Service Center Warteschleife, auf öffentlichen Toiletten und am Ticketautomat – einfach überall. Wie sie zu uns sprechen, hat eine Wirkung – aber welche?

„Es ist meines Erachtens längst noch nicht ausreichend untersucht, welche kulturellen und gesellschaftlichen Auswirkungen es mit sich bringt, dass wir eigene wie fremde Stimmen aufzeichnen können, dass wir die Stimmen von Toten konservieren und anhören können und dass wir schließlich stimmlich und akustisch mit Geräten, Apparaten interagieren.“

Doris Kolesch, Professorin an der Freien Universität Berlin, spricht durch ein Mikrofon und an ihrer Stimme hört man auch, dass sie nicht frei spricht, sondern vorliest – hier als Vortragende auf einer Tagung zum Thema „Stimme im Ausnahmezustand“, die das Zentrum für Literatur und Kulturwissenschaften in Berlin organisiert hat. Das Ohr kann sehr viel und sehr schnell sehr differenziert hören, was für Informationen Stimme überträgt – noch wenig wissen wir darüber wissenschaftlich genau. Die Theaterwissenschaftlerin interessiert das und sie fragt danach, wie historisch geformt die menschliche Stimme ist.„Wir glauben, wir hätten die gleiche Stimme wären wir 100 Jahre früher geboren worden. Ich selbst glaube das nicht. Also ich glaube es vielleicht auch, aber meine Forschungen sagen mir eigentlich, dass ich es nicht glauben dürfte.

“Stimme ist, sagt Doris Kolesch, „natürlich künstlich“ – geprägt von Technologie, kulturellen Techniken und medialer Vermittlung. Frauenstimmen in Deutschland zum Beispiel sind nachweislich tiefer geworden, geformt von sich verändernden Hörgewohnheiten, geformt von dem, was täglich aus den audiovisuellen Medien schallt.„Man kann es für Frauenstimmen ganz klar feststellen. Da gibt es auch Untersuchungen dazu, dass das, was noch aktuell in Stimmbildungsbüchern über die „normale“ also durchschnittliche Stimmfrequenz von Männern und Frauen steht, dass das heute für unsere Gesellschaft nicht mehr stimmt. Die Zahlen, die da im Frequenzbereich von Frauen angegeben werden, haben sich deutlich nach unten gesenkt. Wie kommt das? Also wenn wir eine Brille aufhaben, habe ich den Eindruck, ist uns das schon stärker geläufig, diese Geformtheit des Körpers als bei der Stimme, die doch einfach durch die Art und Weise ihrer körperlichen Verfasstheit für uns immer in der Gefahr ist, so ein Hort des Natürlichen zu sein, sage ich jetzt mal vorsichtig.

Stefan Willer: „Die Stimme ist kulturell unglaublich überformt“

Wie sehr Stimmen historisch geprägt sind, machen frühe Tonaufzeichnung aus dem Deutschen Kaiserreich oder Tondokumente aus dem Nationalsozialismus deutlich. Die Qualität der technischen Aufzeichnung, das Rauschen und Knarren erzeugt ein Gefühl von Befremdung, aber die Technik ist es nicht allein, die „veraltet“ ist, wenn man zum Beispiel die Stimme von Adolf Hitler hört.„Es gibt gleichzeitig auch einen bestimmten Habitus des Sprechens, eine bestimmte Form wie sich ein Herrscher darstellt oder wie sich ein Führer darstellt. Und das sind natürlich auch kulturelle Geschichten. Wir können das heute nicht mehr aushalten. Wir finden das lächerlich, abscheulich und wir können auch kaum noch verstehen, warum diese Stimme so viele Menschen fasziniert hat.“Hitlers Stimme gehört heute zu einem akustischen kulturellen Gedächtnis, über das wir erst seit der Aufzeichnungstechnik verfügen können. Aber seit es dieses Archiv gibt, lässt sich eben auch an vielen Beispielen belegen, dass Stimme sehr viel mehr von historischer Zeit und Kulturraum geprägt ist, als man meinen könnte. Auf eine „natürliche Weise eigen“ ist stimmlich eher wenig. Stefan Willer:„Die Stimme ist kulturell unglaublich überformt – gerade in Hinweisen auf „Finde Deine eigene Stimme“ ist ja gesagt, dass man sie erst einmal kulturell ausfindig machen muss und mit bestimmten Techniken daran arbeiten, dass sie also besonders „eigen“ klingt.

Ein Beitrag von Bettina Mittelstraß

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